Vom Wert der Langsamkeit

Vor Kurzem habe ich mein Bücherregal ausgemistet. Das mache ich einmal im halben Jahr. Früher habe ich mich dabei oft elend gefühlt, weil ich nicht wusste, wohin ich meine ausgedienten Bücher, die mir trotz Entrümpelung immer noch wertvolle Freunde waren, bringen sollte (Der Mülleimer war und ist natürlich tabu). Seit zwei Jahren ist es mit dem Elend vorbei. Denn irgendjemand hat im Eingangsbereich unseres Hauses eine Holzkiste auf einen kleinen Tisch gestellt, und da können nun alle Bewohner des Hauses ihre Bücher verschenken. Was für ein herrliches Gefühl, ein lieb gewonnenes Buch in die Kiste zu stellen, spazieren zu gehen und schon beim Heimkommen zu sehen, dass das Buch einen neuen Besitzer gefunden hat. 

  

Ich habe also wieder einmal ausgemistet. Dabei ordne ich meine Bücher immer nach Kategorien - und meistens sind es dann ganze Stapel, die entweder in einer Schachtel für meinen Abstellraum oder in der Hauskiste - oder in den Händen eines besonderen Menschen landen. 

 

Diesmal zum Beispiel habe ich fünfzehn Bücher über Trauer an die Obfrau des Hospizverbandes Mödling verschenkt, für die dortige Bücherei. Und dann gab es da noch einen zweiten Stapel, der zunächst nicht so recht zurück wollte in mein Bücherregal: "Kreativitätsbücher" Ich besitze insgesamt elf Bücher über Kreativitätstechniken, Brainstormingmethoden, laterales Denken und phantasievolle Ideenentwicklung. Klingt gut, klingt anregend, was? Ja. Und ich verrate es auch gleich: Der Stapel ist schließlich doch wieder in meinem Regal gelandet, weil ich mir doch immer wieder gerne Anregungen für neue Spiele aus diesen Büchern pflücke.

 

Und doch ... war ich tatsächlich verleitet, die Bücher zu entsorgen. Warum? Das hat zwei Gründe. Erstens: Ich beherrsche das, was sie vermitteln, schon sehr gut, das ist für mich immer ein Grund, die Bücher wegzugeben und fortan auf meine innere Weisheit und Erfahrung zu vertrauen (siehe Trauer). Zweitens aber merke ich, dass all diese Methoden wunderbar und wichtig sind - aber einfach nicht genug. Sie sparen das Wesentlichste aus. Sie berühren mich nicht am entscheidensten Punkt. 

 

"Kreativität": Wenn dieses Wort im Alltag verwendet wird, wenn man es gebraucht, um Menschen zu loben oder zu bewundern, dann meint man damit vor allem die Fähigkeit, viele, viele Ideen zu produzieren. Wenn man an Kreativitätsmeetings denkt, sieht man vor seinem inneren Auge Menschen um Flipchartbögen sitzen, jeder einen Marker in der Hand, bunte Post-Its überall, vielleicht noch ein paar bunte Kringel oder Strichmännchen mit Gedankenblasen. Herrlich. Bunt. Originell. 

 

Habt Ihr schon einmal an so einem Meeting teilgenommen? Habt Ihr selbst zu Hause schon einmal ein Brainstorming gemacht? Wie habt Ihr Euch an diesem Punkt der tausend Ideen gefühlt? Mir geht es so: Ich fühle mich aktiviert, sprudelig, aufgezwirbelt. Allmächtig, so fühle ich mich auch. So, als wüsste ich einfach alles. So, als könnte ich jetzt gleich alles schreiben, alles tun, was ich will. Nur, seltsam: Irgendetwas hält mich fern vom Computer, von Papier. 

 

Lange habe ich an mir und meinem Arbeitsethos gezweifelt. Habe mir Vorwürfe gemacht Und darüber nachgedacht, ob ich mein Leben nicht ganz grundsätzlich umkrempeln sollte, um einfach noch mehr, viel mehr Zeit zu haben. Vom Brainstorming direkt zum geschriebenen Text, zur Ordnung, zum Produkt. So sieht korrekte Arbeitsmoral aus. Oder?

 

Nein.

 

"Kreativität", das bedeutet eben nicht nur, Ideen en masse zu produzieren. Kreativität ist in Wahrheit ein subtiler Ordnungs- und Gestaltungsprozess, der sich in mehreren Phasen vollzieht. Die Ideenphase ist die erste Phase von vier. Was dann kommt - kommen muss - erklären uns die Kreativitätsforscher mittlerweile sehr gut. 

 

Die vier Phasen der Kreativität

  1. Präparationsphase - Hier ist Fülle gefragt. Brainstormings, Recherche, Gespräche, Kontakt. 
  2. Inkubationsphase - Sie ist es, auf die wir oft vergessen. Die Phase der Muße, die Phase des Spiels.  Können wir zurücktreten und darauf vertrauen, dass sich in uns alles von selbst ordnet? Haben wir Strategien, um spielerisch und ohne Erfolgsdruck verschiedene Ordnungen auszuprobieren? 
  3. Illuminationsphase - Der "göttliche Funke". Wir können ihn nicht erzwingen. Und doch kann man lernen, auf ihn zu vertrauen. Je öfter man die Inkubation zugelassen, je öfter man erlebt hat, wie sich plötzlich etwas wie unumstössliche Klarheit einstellt, ein Ordnung, die scheinbar vom Himmel fällt, um so leichter fällt es einem, dieses Geschenk anzunehmen und beim nächsten Mal mit einzukalkulieren. Illumination, das heißt: Ich weiß plötzlich, worüber ich wirklich schreiben will. Ich weiß den ersten Satz meiner Geschichte. Ich weiß, welchen Schreibkurs ich Euch als ersten präsentiere. Ich weiß, was ich heute Abend koche. Was ich zur Hochzeit anziehe, worüber ich den nächsten Vortrag halte ...
  4. Verifikations- bzw. Produktionsphase - An diesem Punkt endlich (und erst hier) ist unsere Arbeitsmoral (und vielleicht auch so etwas wie Disziplin) gefragt. Der Funke wird nun umgesetzt. Der Text wird geschrieben, die Kleider werden gebügelt, die Power-Point-Präsentation (oder dieser Blog-Artikel) wird erstellt. Diese vierte Phase ist auch die Phase der Abstriche. Das Allmachtsgefühl aus Phase 1 muss der realistischen Umsetzung weichen. "Kill your darlings", sagt Billy Wilder. Er meint damit: Bringe deine besten Ideen um, wenn sie für das Gefüge des Ganzen nicht unbedingt notwendig sind. Verifikation und Produktion sind anstrengend, mühsam, von Desillusionierung geprägt. Man hält sie nur durch, wenn der Funke in Phase drei stark genug gezündet hat. 

 

Viel gäbe es jetzt noch zu sagen. Darüber, woran echte, produktive Kreativität oft scheitert. Darüber, was passiert, wenn Disziplin zu früh verordnet und ohne tragenden, sinnstiftenden Funken durchgehalten wird. 

Ich werde dieses Thema in einem anderen Beitrag weiterführen. Eben hat mich eine liebe Mitschreiberin auf Facebook daran erinnert, dass heute Sonntag ist und ich nicht so viel arbeiten soll. Steffi, Du hast Recht. Auf in die Muße auf ins Nichtstun, ins Vertrauen. 

Alles Liebe, ich freu mich über Kommentare,

Eure Barbara

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Kristin (Sonntag, 28 Juni 2015 13:08)

    So schön geschrieben. Und vor Allem so wahr. In den letzten 4 Wochen habe ich es selbst erleben dürfen. Und gestern Abend, auf dem Rad kamen plötzlich die Worte, die Sätze, die die letzten Wochen so treffend beschreiben. Und das Gefühl, dass in mir wohnt. Aber es brauchte diese Zeit. Die Gespräche, der Austausch mit Anderen. Und der Rückzug, "Gespräche mit mir selbst". Und dann ist da plötzlich das Wissen: So soll es weiter gehen! So stelle ich es mir vor! So möchte ich es! So wünsche ich es mir! Und dann ist da plötzlich dieses Gefühl von Freiheit und von Glück! Und die Worte sprudeln. Ein Glück gibt es Siri, die brav in Textform bringt, was ich ihr, auf dem Rad, steil bergab, rasend schnell (das Rad UND ich beim Reden) erzähle.

  • #2

    Katrin (Donnerstag, 02 Juli 2015 15:31)

    Ich stelle gerade erstaunt fest, dass die vier Phasen der Kreativität nicht nur auf's Schreiben zutreffen, sondern auch auf andere Bereiche aus dem Alltag. In meinem Fall auf einen ganz bestimmten, in dem ich bis eben das Gefühl hatte, nicht weiter zu kommen. Stattdessen denke ich nun: "Ah! Inkubationsphase! ... Muße, zurücktreten und vertrauen!"
    Ich vergesse oftmals, dass die Dinge ihre Zeit brauchen um zu reifen, Dein Text hat mich nun daran erinnert!
    p.s.: ach ja und bei uns gibt es übrigens einen öffentlichen Bücherschrank, dorthin kann man seine "ausgelesenen Freunde" hinbringen und bei Bedarf natürlich auch neue mitnehmen - finde ich auch eine super Erfindung!

  • #3

    Edeltraud (Donnerstag, 02 Juli 2015 22:21)

    Danke für die vier Phasen der Kretivität,ich brauche oft sehr lange bis ich mich auf das Schreiben

    konzentrieren kann, oft kommt eine-Idee dann sprudeln die Gedanken und kein Papier bei der Hand zum Aufschreiben ,dann ist es schon wieder weg. Gut Ding braucht Weile und Zeit

  • #4

    Markus (Montag, 05 Oktober 2015 13:44)

    Aloha Barbara!

    Danke für diene Zeilen und Energie die du hier hinein gesteckt hast.
    Ich kann den 4 Phasen nur zustimmen.
    Genug oft bin ich von Phase 1 zu Phase 4 übergegangen. Das Ergebnis ist dann meist sehr frustrierend. Viele Projekte sind dann gestorben.
    Da ich aber ursprünglich unselbständig und Handwerker war, war ich gewohnt sofort Hand an zu legen, das funktioniert dann meistens auch.
    Aber wenn man etwas ganz neues zur Welt bringt das man bis da hin noch nie gemacht hat, dann braucht man sicher die 4 Phasen.
    Aloha Markus